»Schwäbische Heimat« – Landeskunde aus erster Hand

 

In Deutschlands renommiertester Heimatzeitschrift berichten fachkundige Autoren viermal jährlich über aktuelle Themen und Ergebnis der landeskundlichen Forschung. Die »Schwäbische Heimat« wurde bereits als beste Heimatzeitschrift Deutschlands ausgezeichnet.

 

Schwäbische Heimat 2015/04

 

Das anzuzeigende Buch über das erste Jahrzehnt des Nürtinger »Club Kuckucksei« weist von vielen Genres einladende Facetten auf: Es lässt sich schwelgend durchblättern wie ein Foto- oder Erinnerungsalbum, holt bewegende Ereignisse von einst in Erinnerung und ordnet penibel Informationen wie eine Vereinschronik oder liest sich über viele Passagen hinweg auch ein wenig wie ein Heimatbuch.

Mit informativ-anschaulicher Heimatgeschichte haben die von einem Kollektiv aus fast 30 Autoren und Autorinnen zusammengetragenen Texte, Bilder und Quellen denn auch durchaus was zu tun! Bei der Geschichte der von der Nach-1968er-Generation vor allem in Klein- und Mittelstädten initiierten Jugend- und Kulturzentren handelte es sich schließlich auch um Versuche einer anderen, selbstbestimmteren Beheimatung in einer bis dato weitgehend konservativ geprägten Nah- und Alltagswelt, die längst nicht mehr mit den Bedürfnissen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen korrespondierte. Nach dem restaurativen Klima der 1950er-Jahre und dem technokratischen Fortschrittsoptimismus der 1960er-Jahre waren damals die Zwänge einer autoritären Wertewelt schließlich noch alltäglich spürbar – in Schule, Ausbildung und Familie genauso wie in den lokalen Öffentlichkeiten. Man muss sich dies vergegenwärtigen: Es war eine Zeit, da noch über die Abschaffung der Prügelstrafe in Schule und Berufsausbildung diskutiert werden musste und Frauen für ihre Berufstätigkeit das Placet ihrer Ehemänner benötigten! Die Fotos lümmelnder Langmähnen und streikender Schüler aus den 1970er-Jahren offenbaren unmissverständlich: Hier besaßen die Ansprüche auf Anderssein, Selbstbestimmung und Individualität noch nachhaltige subversive Energien.

Tatsächlich sollte das Engagement des Clubs nach seiner Gründung im Herbst 1970 sowohl lebensweltlich wie im öffentlichen Raum in den folgenden Jahren einiges verändern und in Bewegung bringen. Die einzuschlagende Richtung war gleichermaßen offen wie umstritten und changierte irgendwo zwischen politischen Ansprüchen, Protest- und Jugendkultur und Sehnsucht nach hemmungsloser Individualität. In jedem Fall freilich konstituierte sich die lokale Szene in gemeinsamer Opposition gegen ein verknöchert erscheinendes Establishment: »Gegen kulturell politisches Einerlei«, hieß es entschlossen auf einem Slogan, der im ersten Kuckucksei-Jahrzehnt allerorten präsent sein sollte. Die Aufbruch-Euphorie im Nürtinger Kuckucksei war da kein Einzelfall. In Schorndorf laborierte bereits die »Manufaktur«, im benachbarten Kirchheim sorgte seit 1968 der »Club Bastion« für Unruhe oder in Tübingen der »Club Voltaire«. Wie man gegen die lokalen Mono- Kulturen kulturelle und politische Vielfalt setzen wollte, sollte sich in Nürtingen alsbald offenbaren: Beatkonzerte und Folkloreabende, Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg, «Klein-Woodstock» mit dem ersten Open-Air-Festival in der Beurener Sandgrube am Fuße der Alb, politische und philosophische Arbeitskreise, antifaschistische Vortragsreihen oder Filmabende.

Das Buch ist ein äußerst ansprechendes Bilder- und Lesebuch über ein rezentes Kapitel Nürtinger Heimatgeschichte. Der spannende Stoff Lokalgeschichte wurde für die Annalen chronologisch geordnet. Am Ende eines jeden Jahres erfolgt eine fast buchhalterische Aufstellung der Veranstaltungen, wobei die kleine Welt Nürtingens in Korrespondenz zum globalen Geschehen gesetzt wird, sodass en passant etwa zu erfahren ist, dass 1971 der «Haarnetz- Erlass» das Tragen längerer Frisuren bei der Bundeswehr ermöglichte, in der DDR Ulbricht von Honecker abserviert wurde oder sich in Chile unter Allende die außenpolitischen Auseinandersetzungen mit den USA zuspitzten. Und auch dies erscheint aufschlussreich: »Ein Liter Normalbenzin kostet 59,3 Pfennig. Der durchschnittliche Preis für einen halben Liter Bier beträgt ca. 0,76 DM.«

Die Kuckucksei-Geschichte liest sich genauso unterhaltend wie informativ. Sie richtet sich gleichermaßen an ein allgemein lokalhistorisch interessiertes Publikum wie an die Aktivisten und Aktivistinnen von einst. So heißt es eingangs: »Dieses Buch soll die Erinnerungen der Autoren zum kulturell-politischen Club Kuckucksei in Nürtingen wiedergeben. Keinesfalls erhebt es den Anspruch, politisch oder historisch korrekt zu sein. Vielmehr sollen persönliche Erinnerungen im Vordergrund stehen. Wir wollen versuchen, unser Lebensgefühl, die Gedanken, die uns damals durch die (meist langhaarigen) Köpfe geisterten, der geschätzten Leserschaft in Wort und Bild nahe bringen.«

Zu sinnieren wäre freilich noch ein wenig über den Namen des Clubs, schließlich bedeuten Namen immer auch: Ein Kuckucksei wird in ein fremdes Nest gelegt, damit der gefräßige Jungkuckuck von den ahnungslosen Wirtseltern großgezogen wird; das ist parasitär und die Initiative wird von außen hineingetragen. Dies verhält sich beim Nürtinger »Club Kuckucksei« dann doch grundsätzlich anders. Hier war es der eigene »Nachwuchs«, welcher der Stadt sein »Kuckucksei« ins Nest legte. Seither hat der Club die Entwicklung des politischen und kulturellen Klimas mitgeprägt. Er eröffnete lokale Freiräume zur individuellen Selbstrealisierung. Aber er schuf auch den Nährboden für weitere Initiativen, die sich etwa als Friedens- oder Umweltbewegung organisieren sollte. Insofern sind in dem vorgelegten Buch auch weit über Nürtingen hinaus interessante Kapitel zur Geschichte der 1970er-Jahre nachzulesen.          Friedemann Schmoll